Montag, 3. März 2008

Emma und der Wingtip

Herrje, was war am Samstag alles los! Ein Baum fiel auf einen fahrenden ICE, die Feuerwehr legte Sandsäcke am Bürgerfelder Teich, und in Hamburg hat ein Lufthansa-Airbus bei der Landung den Boden mit der Flügelspitze berührt.

An diesem Vorfall mit dem Airbus kann man wunderschön sehen, wie so ein Ereignis heutzutage in die Medien gerät. Ich versuche, das chronologisch darzustellen. Vorhang auf!

Samstag, 01. März 2008, vormittags: Lars T. steht mit Freunden irgendwo am Flughafen Hamburg herum, erfreut sich an den landenden Flugzeugen und photographiert sie. Das nennt man Spotting.

Samstag, 01. März 2008, gegen Mittag: Der Lufthansa-Flug LH044 aus München, ein Airbus A320 namens "Suhl", befindet sich im Anflug auf die Landebahn 23. Das Wetter ist ungemütlich:

EDDH 011220Z 29028G48KT 9000 -SHRA FEW011 BKN014 07/05 Q0984 TEMPO 29035G55KT 4000 SHRA BKN008

Im Klartext: Wind aus 290 Grad, 28 Knoten, in Böen 48. Das ist im Rahmen dessen, was mit dem Airbus A320 im Rahmen der Zulassung demonstriert wurde.

Beim - vielleicht ein winziges Bißchen zu früh erfolgenden - Abfangen der Maschine über der Landebahn wird sie von einer starken Bö erfaßt. Der linke Flügel streift mit der Spitze den Boden.


Samstag, 01. März 2008, genau jetzt: Macht Lars T. das Photo seines Lebens. Die Piloten leiten ein Durchstartmanöver ein und landen kurze Zeit später auf der Runway 33.

Samstag, 01. März 2008, 17:03:40: Lars T. postet das Photo im
Sturm-Thread in seinem Spotterforum.

Samstag, 01. März 2008, am späten Nachmittag: Das Bild macht die Runde. Nutzer "EDFH-FR" stellt es unter dem Thema "Autsch" auf pilots.de, der Mutter aller deutschen Pilotenforen, ein.

Samstag, 01. März 2008, 19:10:45: Der Benutzer "N14AZ" startet einen "LH A320 Getting Rid Of Its Winglet During Landing" genannten Thread auf airliners.net, der Mutter aller Luftfahrtforen, und verweist darin auf den Sturm-Thread.

Samstag, 01. März 2008, 19:36: "JuniorMan" erstellt das Thema "LH A320 Rough Landing @ Hamburg" auf PPRuNe, der Mutter aller Gerüchteküchen und verlinkt Larsens Photo.


Schon auf pilots.de wurde auf ein Video des Ereignisses auf Youtube hingewiesen, das genau wie Videos anderer Landungen am Samstag immer wieder auf verschiedenen Nutzerkonten auftauchte und kurz darauf vom jeweiligen Nutzer entfernt wurde. Am Abend war der Youtube-Account desjenigen, der die Video als erster eingestellt hatte, gelöscht. Zwei Kopien schafften es auf Liveleak.com, von denen eine überlebte.

Und jetzt, dachte ich, gehts richtig rund. Denn meine Kollegen lesen nur zu gerne in oben genannten Foren - in denen nur ein Bruchteil der Teilnehmer Verkehrspiloten sind - mit und schustern sich aus den größtenteils unqualifizierten Kommentaren Unbeteiligter ihre Artikel zusammen. Der englische Boulevard ist dabei federführend, aber auch die BBC macht munter mit und ist sich nicht zu schade, auf diese Foren als "Quelle" zu verweisen. Auf der Startseite von PPRuNe wird mittlerweile darauf hingewiesen, daß die Teilnehmer sich deswegen bitte zurückzuhalten hätten:

"As these are anonymous forums the origins of the contributions may be opposite to what may be apparent. In fact the press may use it, or the unscrupulous, to elicit certain reactions."

Heftig, was?

Auch Journalisten müssen mal Feierabend machen, und deswegen gab es am Samstag abend bei den üblichen Verdächtigen kein Wörtchen über das Ereignis in Hamburg zu lesen. Die Frühschicht von Spiegel Online ist dafür gleich in die Vollen gegangen. Getitelt wird mit dem unschönen Wort

"Horrorlandung"

und danach behauptet, daß es sich um einen "Beinahe-Crash" gehandelt hätte. Der Kollege setzt den Zeitpunkt des Vorfalls mit "gegen 14 Uhr" an. Aber jetzt kommts:

"Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE wird dabei das Winglet beschädigt - jener Stummel an Flügelende, der Luftwirbel verringern und so Kerosin sparen soll."

Nach meinen Informationen dürften die "Informationen von SPIEGEL ONLINE" aus den oben genannten Foren stammen. Klingt aber schon mal ganz anderes als beispielsweise:

"In der Online-Community airliners.net wird behauptet, daß dabei das Winglet beschädigt wird - jener Stummel an Flügelende, der Luftwirbel verringern und so Kerosin sparen soll."

Zum ersten: Ein Winglet "verringert" keine "Luftwirbel". Es erzeugt Auftrieb - unter anderem. Und zum zweiten, wenn wir schon dabei sind: Der Airbus A320 hat keine Winglets, sondern Wingtips.

Der Rest des Artikels ist solide und zitiert einen Lufthansa-Sprecher, der die Piloten lobt. Axel Raab von der Deutschen Flugsicherung darf noch anmerken, daß er so etwas "auf einem deutschen Flughafen noch nicht gesehen [habe]." Abgesehen von der leichten Panikmache am Anfang und den üblichen handwerklichen Fehlern also noch erträglich.

Als die "Bild" auf den Zug aufsprang, rechnete ich mit dem Schlimmsten und erwartete wüste Attacken auf die Piloten. Ich wurde angenehm überrascht - aber das ist wohl der alerten Pressetruppe von der Lufthansa zu verdanken, deren Sprecher Weber ausgiebig zitiert wird. Eine Bildmontage ziert den Artikel, angeblich der Kapitän des Fluges, in Lars T.'s Photo hereingeschnipselt und darunter der Lobpreis:

"Dieser Pilot verhinderte Flugzeug-Katastrophe"
"Dieser Pilot ist ein Held"

"Sie alle entkommen nur knapp einer Katastrophe - weil Pilot Oliver A. (39) perfekt reagiert."

Dem schließt sich eine tüchtig dramatisierte Darstellung des Geschehens an - woher die "Bild" die ohne "circa" oder "etwa" angegebenen "250 km/h Landegeschwindigkeit" (die mir zu niedrig erscheint) nimmt, weiß ich nicht - und die Bezeichnung von Lars T. als "Leser-Reporter". Die "1414" wird er wohl kaum angesimst haben. Interessant wäre zu wissen, ob er dafür mehr als die 400 Euro bekommen hat, die die "Bild" bei Veröffentlichung eines Leserphotos zahlt. Mittlerweile hat "Bild" den Kerl, der das ganze gefilmt hat, zur Fahndung ausgeschrieben. Sachdienliche Hinweise bitte hier einreichen.

Schließlich darf der Kapitän sein Handeln kommentieren:

"Wir leiteten sofort das Durchstarten ein – ein Verfahren, das in der Ausbildung oft trainiert wird. Ein anspruchsvoller Anflug ..."


Durchstarten? Anflug? Was denn jetzt? Aber das ist sowieso frei erfunden. Die Tagesschau erwähnt hierzu Thomas Jachnow, auch Lufthansa-Sprecher:

"Flugkapitän Oliver A. wolle sich nicht öffentlich zu dem Manöver äußern."

Tja, "Bild" - es hätte alles gut werden können. Kein Tribunal für Oliver, stattdessen Seligsprechung. Das wäre ja noch erträglich gewesen. Aber dann noch dem armen Mann Worte in den Mund legen, die er gar nicht gesagt hat - setzen, sechs.

Noch mal zur Tagesschau - die hat zwar auch die seltsam präzisen 250 km/h im Artikel, bleibt aber sachlich und hat lediglich den Klassiker im Programm:

"Mit einem Durchstartmanöver konnte der Pilot das Flugzeug mit 137 Menschen an Bord wieder unter Kontrolle bringen."

Kleiner Tip: Da vorne sitzen zwei Piloten, nicht nur einer. Und "unter Kontrolle bringen" steht nicht in kausalem Zusammenhang mit dem "Durchstartmanöver".

Und noch ein Schmankerl zum Schluß. Auf pilots.de erwähnt Nutzer "JBL", daß Jörg Kachelmann sich beim Tagesthemen-Wetter die Frage gestellt habe, warum LH044 wegen der geringeren Seitenwind-Komponente nicht von vornherein den Runway 33 statt der 23 angeflogen habe.

Nun, vom Wetter hat Herr Kachelmann zweifelsohne Ahnung. Aber da er sich nicht im Besitz einer Berufspilotenlizenz befindet und beim Anflug nicht im Cockpit der LH044 saß, sollte er sich diese Frage besser nicht stellen, da er sie nicht beantworten kann.


Zeit für ein Resümee: Hätte der wackere Lars T. sich am Samstag nicht aus der warmen Wohnung herausgewagt, hätte die Welt wohl erst von diesem Vorfall Notiz genommen, wenn die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung ihren Bericht fertiggestellt hätte - und dann wohl auch nicht in dem Ausmaß, in dem es jetzt geschehen ist. Aber er hat sein Photo gemacht und ins Internet gestellt. Was dann folgte, ist ein Fall für die Lehrbücher.

Eine derart rasend schnelle weltweite Kenntnisnahme dieser Windbö und ein derartiges Medienecho hätte es vor ein paar Jahren nicht gegeben. Es ist nur logisch, daß die mittlerweile blitzartig funktionierende Luftfahrt-Gerüchteküche im Internet mit Argusaugen von der Presse beobachtet wird. Das erfordert auf Seiten der Journalisten nüchternes Denken, überlegtes Handeln und viel Sorgfalt ohne "Wir-sind-die-Ersten"-Schaum vor dem Mund, wenn man aus solchen Informationsfetzen eine verantwortungsvolle Veröffentlichung machen will.

Die Behandlung dieses Vorfalls in den Medien ist wie immer teilweise in die Hose gegangen, mit den üblichen Handlungsmustern der üblichen Verdächtigen. Die ganz schlimmen Dinger sind diesmal ausgeblieben. Wenn - Gott bewahre! - statt des umgeklappten Wingtips eine Bruchlandung stattgefunden hätte, mit Toten und Schwerverletzten, stünde jetzt nichts von heldenhaften Piloten in der Zeitung. Das Video der Landung wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur öffentlichen Exekution der Piloten und mutwilliger Schuldzuweisung genutzt worden. Aber Oliver A. hat ein Glanzstück hingelegt, und alles ist gut.






Quizfrage: Wo in diesem Eintrag spekuliere ich haltlos? ;-) Der erste, der es entdeckt, kriegt ein Pils.

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