Montag, 4. August 2008

Die alten bösen Lieder (1)

Zwei Klicks von dieser frisch-fehlerfreien, auf tagesschau.de verlinkten Meldung entfernt, findet sich im Online-Angebot des NDR unter der Rubrik "Dossiers" eine Auflistung namens "Die schwersten Bahnunglücke seit 1990". Einige der dort aufgeführten Vorfälle sind keine "Bahnunglücke" im Wortsinn, sondern alltägliche Ereignisse. Manchmal haben sie mit "der Bahn" auch überhaupt nichts zu tun. Der Reihe nach:

"12. Oktober 1991: In Köln werden sechs Gleisbauarbeiter von einem Personenzug getötet, ein weiterer Arbeiter wird verletzt."

Ist nicht schön, aber (leider) ein austauschbares Ereignis und kein schweres Bahnunglück.

"20. Mai 1992: An einem unbeschrankten Bahnübergang bei Jarrenwisch (Schleswig-Holstein) erfasst ein Triebwagen einen Kleinbus und tötet alle sieben Bus-Insassen, darunter sechs Kinder."

Und am 14. Oktober 1995 ist in Bad Oldesloe ein Kartoffelsack umgefallen. Bei Rot über den unbeschrankten Bahnübergang? Selber schuld! Wenn man die Kinder mal wegläßt, passiert das jede Woche einmal irgendwo in Deutschland. Erst vor wenigen Wochen: Vier tote polnische Erntehelfer, unbeschrankter Bahnübergang. (Ich liebe meinen "Express", sorry) Die stehen übrigens nicht im "Dossier". Denn da sind ja nur vier Menschen gestorben und nicht "mindestens fünf".

"10. Dezember 1992: In Bad Oldesloe (Schleswig-Holstein) rast ein Eurocity in eine Gleisarbeiterkolonne und tötet sieben Menschen."

Ohja. Gerast ist er also? Mit dem Verb "rasen", besonders "in etwas rasen" assoziiere ich aufbrüllende Motoren, quietschende Reifen, in Panik schreiende, auseinanderstiebende Menschen. Ein Laster, der mit 80 durch die Fußgängerzone brettert, dabei Sonnenschirme, Eiscafe-Kunden und kleine Kinder mitreißt. Tempo 200 in geschlossenen Ortschaften - so etwas ist "rasen". Verantwortungslos überhöhte Geschwindigkeit, Vorsatz, Handeln gegen besseres Wissen.

Ich bin mir ziemlich sicher, daß der betreffende Lokführer nicht mit 200 durch die Baustelle durch ist, denn bei Gleisbauarbeiten ist Tempo 40 angesagt. Das weiß der Lokführer nicht erst, wenn die La-Scheibe rechts neben dem Gleis steht. Durch die Verwendung des Wortes "rasen" beeinflußt der NDR den Leser, denn jetzt geht der erst mal von einer Schuld des Lokführers aus, denn der ist ja "gerast". Aber Züge rasen nicht.

"3. Juni 1998: Das Inferno von Eschede (Niedersachsen)."

"Flammendes Inferno". Ist meine erste Assoziation. Warum schreibt das eigentlich niemand, wenn Flugzeuge abstürzen? Klingt doch astrein!

"12. April 1999: Im nordrhein-westfälischen Wuppertal wird eine Schwebebahn von einer Stabilisierungskralle aus der Führung gehebelt und stürzt mehrere Meter in die Tiefe."

Die Schwebebahn in Wuppertal wird nach der BOStrab und nicht nach der EBO betrieben. Mit der Eisenbahn im Wortsinn hat sie rein gar nichts am Hut. Dieser Unfall gehört schlicht nicht in den Artikel - oder heißt der etwa "Die schlimmsten Straßen- und Schwebebahnunfälle seit 1990"?

"6. Februar 2000: Beim Bahnhof Brühl (Nordrhein-Westfalen) entgleist ein Nachtexpress auf dem Weg nach Basel. Die Lok prallt gegen ein Wohnhaus, mehrere Waggons stürzen eine Böschung hinunter. Neun Menschen sterben, etwa 300 werden verletzt."

Furztrocken und - fast - präzise. Denn mit einem Nachtexpress bin ich noch nie gefahren, wohl aber mit einem EuroCity, vulgo: InterCity, der ins Ausland weiterfährt.

Oben schrieb ich, daß Züge nie rasen. Aber wenn jemals einer gerast ist (von dem hier mal abgesehen), dann war es der in Brühl entgleiste EC. Der Lokführer hat offenbar wegen einer Mischung aus mangelnder Kommunikation, wenig Erfahrung und unklar formulierten Richtlinien seinen Zug in einer Langsamfahrstelle von den erlaubten 40 km/h auf knapp 120 km/h beschleunigt, da er annahm, die Langsamfahrstelle bereits wieder verlassen zu haben. Als der Zug eine für 60 km/h Höchstgeschwindigkeit ausgelegte Weiche durchfuhr, entgleiste er, durchbrach eine Lärmschutzwand, querte einen Vorgarten und stieß mit einem Einfamilienhaus zusammen.

Wäre ich Redakteur beim NDR, müßte ich mich wahnsinnig zusammenreißen, um hier nicht von "rasen" zu sprechen. Da paßt das Bild: "Brüllend beschleunigte die Lok. Da kam die Weiche, Funken sprühten, donnernd entgleisten die Wagen."

"22. September 2006: Bei einem schweren Unfall auf der Transrapid- Versuchsstrecke im emsländischen Lathen sterben 23 Menschen, elf werden verletzt."

Zumindestens für mich ist der Transrapid das genaue Gegenteil von Eisenbahn. Wahrscheinlich operiert er nach der EBO, aber er verkehrt auf einer isolierten Teststrecke, nicht im Schienennetz der deutschen Bahn. Gehört also nicht in den Artikel.


Hätte die Überschrift nicht besser "Wahllos ausgewählte Zwischenfälle in Zusammenhang mit spurgebundenen Fahrzeugen seit 1990" lauten sollen?




2 Kommentare:

Kilo6 hat gesagt…

:D sehr schön, hat mal wieder spaß gemacht von deinem blog zu naschen

Jannick Dahm hat gesagt…

Selbst nach vier Jahren nicht vorhandener Artikelpflege, nicht mehr vorhandenen Seiteninhalten, zu denen man dank Hyperlinks weitergeleitet werden sollte und einem Halbwissen, dass man so heute nicht mehr erwarten dürfte, ein amüsanter Artikel, der die Grübchen größer werden lässt.
Toll geschrieben!